Frauen-SF oder feministische Utopie?
(Erstveröffentlichung SFT 1/85)
"Utopien – leicht verderbliche Ware?" – so lautete der vielversprechende Titel des diesjährigen Tönnies-Tages in Kiel. Im Programm wurde u. a. eine Arbeitsgruppe zu folgendem Themenbereich angeboten: “Soziale Utopien: Emanzipation zwischenmenschlicher Beziehungen. Auswege aus der Geschlechterproblematik – Rollen- und Geschlechtertausch – Androgynie – Matriarchat."
Ausgehend von einer knappen und sicher sehr subjektiven Berichterstattung der kontrovers geführten Diskussion sollen hier einige Thesen zur Funktion feministischer Science Fiction vorgestellt werden. Dies läßt sich insofern hier verbinden, als sich die Debatte in der Arbeitsgruppe ausführlieh um den Aspekt der Legitimation, der politischen Berechtigung der genannten Li teratur drehte, wobei allerdings eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Motiven der Frauen-SF kaum oder doch nur am Rande stattfand.
Die Moderatoren/innen der Arbeitsgruppe – Prof. Inge Stephan, Dr. Horst Heidtmann, Dr. Renate Berger, alle Universität Hamburg und Prof. Heinrich Kupfer, PH Kiel u. a. – legten in einem etwas zögerlichen Anfang der Runde folgende Themenvorschläge vor: Geschlechtertausch /künstliche Frauen und Sexmaschinen/ Androgynie/alle Macht den Frauen? (Amazonen und Matriarchat)/ ist die Zukunft weiblich? /neue Kommunikationsformen als Revolution zwischenmenschlicher Beziehungen/die Lust am Irrationalen/das Ende der Liebe (politische Dystopien)/keine Macht für niemand . . . . Etwas sprachlos angesichts der Themenliste, die allerdings durchaus sinnvoll zusammengestellt war, kam die Diskussion nur sehr mühsam in Gang. Zur Diskussionsgrundlage diente Christa Wolfs bekannte Kurzgeschichte "Selbstversuch. Traktat zu einem Protokoll.“ 1 Diese als Auftragsarbeit zum Thema Geschlechtertausch geschriebene Erzählung berichtet aus der Sicht der Versuchsperson die Verwandlung einer Frau in einen Mann, die Beobachtungen der Frau in der neuen Rolle und die Gründe für ihren vorzeitigen Abbruch des Experiments. Der Art nach persönliche Ergänzungen zum offiziellen Protokoll geben sie Einblick in den Wechsel der Wahrnehmung durch den Geschlechtertausch und dokumentieren die Beobachtungen einer Frau, die als Mann von ihrer Umwelt wahrgenommen wird . Schneller und vollständiger als ihre eigene Wahrnehmung verändert sich die Wahrnehmung der anderen und deren Verhalten ihr gegenüber. Als sie schließlich erkennen muß, daß mit dem Vollzug der biologischen Umwandlung ihre Gefühle allmählich von einer allgemeinen Gleichgültigkeit abgelöst werden, entschließt sie sich vor der vereinbarten Zeit zum Abbruch des Versuchs. Implizit ist dies außerdem die Geschichte einer Liebe: sie liebt den Erfinder und Versuchsleiter, stellt aber fest, daß diesen Mann (ebenso wie sie als Mann) nichts als Gleichgültigkeit gegen das Leben beherrscht.
Über die Behauptung Wolfs, Männlichkeit sei durch einen Mangel an Liebes· und Gefühlsfähigkeit gekennzeichnet, entbrannte in der Arbeitsgruppe eine äußerst heftige Diskussion: sei dies ein zu verallgemeinernder Satz oder beziehe ihn die Autorin einzig auf diesen Mann – einen berühmten skrupellosen Wissenschaftler, dem die wissenschaftliche Machbarkeit entscheidend ist und der sich seinen Forschungen widmet, weil er gefühlskalt ist und weil er dies verheimlichen muß? Insbesondere die wenigen Männer wehrten sich natürlich gegen eine verallgemeinernde Interpretation der Geschichte. Durch ihre z.T. recht aggressive (aber wenig überzeugende) Gegenargumentation bezogen sich die Frauen immer wieder auf ihre Beiträge, schien sich eine Situation zu wiederholen, die sicher viele der anwesenden Frauen schon oft genug erlebt hatten: das eigentliche Thema wurde durch eine Ebene abgelöst, auf der nicht mehr inhaltlich, sondern eher rechtfertigend diskutiert werden mußte (mußte?). Nicht Perspektiven und Strategien, die der Lösung der Geschlechterfrage dienen könnten, sondern die Legitimation des Feminismus standen plötzlich zur Debatte. Wohl unter dem Einfluß dieser Situation bestand dann unter den Diskussionsteilnehmerinnen vergleichsweise große Einmütigkeit in Bezug auf die Identifikation von Weiblichkeit und Gefühlspotentialen, obgleich natürlich auch auf die Gefahr einer solch traditionellen Zuschreibung hingewiesen wurde.
In diesem Zusammenhang wurde die Frage nach der Macht der Frau, der Macht für die Frau aufgeworfen. Die Standpunkte waren hier sehr kontrovers. Plädierten die einen für eine sofortige Machtbeteiligung, so vertraten andere Frauen die Meinung, daß frau sich an der herrschenden Macht nicht beteiligen dürfe. Der Begriff "Macht" und die mit ihm assoziierten Vorstellungen blieben jedoch bis zum Schluß verschwommen. Hier wäre es sicher hilfreich gewesen, sich genauer auf die Literatur zu beziehen, allerdings weniger auf Christa Wolfs Erzählung denn auf das ganze Spektrum der Frauen-SF, daß durch diese Geschichte nicht sehr glücklich repräsentiert wurde. Die radikalen Entwürfe in der SF weiblicher Autoren, also vor allem diejenigen Romane, die reine Frauengesellschaften beschrieben, wurden zwar mehrfach angesprochen, jedoch nie genauer untersucht. So konnte der Streitpunkt nur sehr abstrakt diskutiert werden, der Sprachgebrauch in der Diskussionsrunde, das war unschwer zu erkennen, ließ eine Verständigung nicht immer zu.
Die begriffliche Diffusion, verbunden mit der bedauerlicherweise nur teilweise geführten Diskussion über Inhalte und utopischen Gehalt der Frauen-SF soll daher als Anlaß dienen, einige Hypothesen hier vorzustellen. Die Begriffe Frauen-Science Fiction und feministische Utopie gingen oft in der hitzigen Debatte durcheinander. Rechnet man/frau die Fantasy weiblicher Autoren noch dazu, so kann eine Diskussion nur dann dieser Literatur auf die Spur kommen, wenn klare Abgrenzungen vorgenommen werden – selbst wenn das ein Unterfangen ist, das von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein scheint, weil sich nicht jeder Roman eindeutig einem dieser Termini zuordnen läßt. Steht aber immer nur DIE Science Fiction zur Diskussion, so verwundert es z.B. nicht, wenn die auf der Tagung gestellte Frage nach dem utopischen Gehalt des Genres von den anwesenden Wissenschaftlern generell verneint werden konnte.
Gewissermaßen fehlte der gesamten Veranstaltung ebenso wie der oben beschriebenen Arbeitsgruppe der – so möchte ich es hier einmal nennen – Blochsche Geist. Der Philosoph Ernst Bloch, der in seinem umfangreichen Werk dem utopischen Gehalt von Kunst, Literatur, Alltag, Zeitgeschichte etc. auf die Spur zu kommen bemüht war, beschäftigte sich jeweils mit ·sehr konkreten Texten oder Gegebenheiten, die Ebene der Verallgemeinerung bildete in seiner philosophischen Argumentation stets erst die zweite Stufe der Untersuchung.
Eine solche Differenziertheit bei der Suche nach Utopischem im Genre SF wäre sowohl der Utopie als auch der SF gerechter geworden und die gegenseitigen Abgrenzungsbemühungen von einerseits Wissenschaftlern, andererseits anwesenden Autoren/innen hätten sich möglicherweise als überflüssige Polarisierung erwiesen. Niemand wird doch ernsthaft der SF ihren Unterhaltungswert absprechen wollen, niemand wird ernsthaft von den Autoren/innen verlangen, alle unsere Gegenwartsprobleme – deren wir ja leider genug haben – im Rahmen eines SF-Romans lösen zu müssen. Es ist jedoch auch nicht korrekt, die SF von wissenschaftlicher Seite aus in Absehung all ihrer Unterschiede dem Genre Unterhaltungsliteratur zuzurechnen, ihr innovative Gedanken abzusprechen und damit bereits die Möglichkeit utopischer Gedankenentwicklung zu bestreiten. Um die Realisation, um das Gelungensein dieser Möglichkeit hätte es an diesem Wochenende und speziell in der Arbeitsgruppe "Soziale Utopien" gehen müssen. Das wurde nicht geleistet. Denn so unterschiedlich die einzelnen Werke der SF /Fantasy, so unterschiedlich ihre Funktion, so unterschiedlich ihr utopischer Gehalt.
Die Schwierigkeit liegt zunächst immer in der Definition des Utopischen. Sagen wir an dieser Stelle einmal ganz vorläufig mit Ernst Bloch: wo NOCH NICHT Gedachtes, das sich selbst in einem historisch-politischen Rahmen begreift, und mit konkretem Veränderungswillen gepaart ist, gedacht wird, da hat die Utopie ihren Ort.
Bei weitem nicht alles, was unter dem Begriff SF/Fantasy von Frauen publiziert wurde, verdient den Titel "feministische Utopie". Stellt der jeweilige Roman aber eine Gesellschaft dar, in der Frauen die gleiche – oder sogar als einzige – gesellschaftliche Macht besitzen, sind die politischen Entscheidungsstrukturen klar herausgearbeitet, handeln die Hauptfiguren als autonome menschliche Wesen und nicht traditionellen Geschlechtsrollenstereotypen verhaftet, so können wir von einem Roman sprechen, der utopische Züge trägt. Die wenigsten von Frauen geschriebenen Romane erfüllen diese Kriterien. Der weitaus größte Teil der Fantasy fällt damit heraus, ebenso all diejenigen SF-Romane, die uns nicht eine deutlich erkennbare gesellschaftliche Struktur vorführen. Das allein macht aber noch nicht vollständig einen SF-Roman zu einem utopischen Text, wie noch gezeigt werden wird. Zu bedenken wäre überdies, daß viele der Romane unter der Genrebezeichnung SF & Fantasy auf den Markt gekommen sind, was bei manchen allerdings eher verkaufspolitische Gründe haben dürfte. Andere wiederum wurden von kleinen Frauenverlagen publiziert, und erreichten gar nicht das übliche Leser/innen-Publikum der Science Fiction.
Eine von amerikanischen Literaturwissenschaftlerinnen 2 vorgeschlagene Einteilung der feministischen Utopie unterscheidet zwischen Romanen, die uns eine Frauengesellschaft vorführen und jenen, die ein Matriarchat oder eine "gemischte" Gesellschaft ohne Geschlechtsrollenspezifizierung beschreiben. Ein Sonderfall, der immer extra erwähnt werden muß, ist Ursula K. LeGuins THE LEFT HAND OF DARKNESS 3, der ja in einer Gesellschaft BIOLOGISCH androgyner und nur periodisch sexuell aktiver Wesen spielt. (THE LEFT HAND OF DARKNESS symbolisiert die Abwesenheit sogar von der MÖGLICHKEIT einer Ausbildung von Geschlechtsrollen!) Diese phänomenologische Einteilung ließe sich auf folgendes Problem reduzieren: wird eine Gesellschaft für beide Geschlechter oder allein eine für die Frauen entworfen? (An dieser Frage ging die Diskussion in der Arbeitsgruppe natürlich nicht ganz vorbei, und trotz der versöhnlichen Wahl des Textes fühlten sich die männlichen Teilnehmer von der feministischen Utopie vernachlässigt. Wie lange die klassische Utopie die Frau ausschloß, darüber schwieg man sich aus.)
Allen Texten gemeinsam ist ihre scharfe Kritik patriarchaler gesellschaftlicher Verhältnisse, die den Frauen elementare Grund- und Menschenrechte vorenthalten, was in jedem Falle EINE wichtige Funktion jeder Utopie, nicht nur der feministischen, ist. Durch die zum Teil dramatisierte Darstellung der herrschenden Realität sollen der Leserin/dem Leser die Augen geöffnet werden, soll eine Haltung aufgebrochen werden, die die schlechte Realität unhinterfragt erduldet. Zeigt die Autorin gleichzeitig, wie ein Gemeinwesen – so oder so – gerechter organisiert werden könnte, stellt sie ein Denken in Frage, daß davon ausgeht, Gesellschaft sei von jeher so gewesen und könne folglich auch niemals verändert werden. Die Phantasie einer besseren Welt hat zusätzlich in jedem Falle eine nicht zu unterschätzende psychologische Wirkung, entlastet sie doch von den ermüdenden, ärgerlichen, erniedrigenden Alltagserfahrungen. Spielt diese Handlung in einem Frauenland, so wird diese Wirkung entsprechend gesteigert.
Insbesondere die radikalen Entwürfe hatten und haben darüber hinaus eine Funktion in der Frauenbewegung. Diese Texte könnte man/frau als Selbstverständigungstexte der Bewegung bezeichnen, denn sie diskutieren in einem literarischen Rahmen die Abgrenzungspolitik der Frauenbewegung, die vor allem während der Siebziger Jahre sehr stark vertreten wurde. Die hiermit verbundenen Probleme und internen Debatten spiegeln sie entsprechend wider. Die radikalen Entwürfe diskutieren im übrigen sehr viel weitgehender das Problem informeller Machtstrukturen oder die Frage nach Auseinandersetzungs- und Kooperationsbereitschaft mit Männern. Doch selbst eine Differenzierung nach den verschiedenen Typen der feministischen Vision ist im Grunde noch zu ungenau, um den Texten auf ihre utopische Spur zu kommen. Betrachtet frau/man etwa die radikalen Entwürfe, also die Frauengesellschaften untereinander, so finden sich solche, die eine Kooperation mit Männern grundsätzlich ausschließen (z. B. Suzy McKee Charnas: MOTHERLINES/Sally Miller Gearhart: THE WANDERGROUND/Rochelle Singer: THE DEMETER FLOWER)4, andere dagegen erwägen die Möglichkeit einer positiven Veränderung sozialer Männlichkeit und damit einer möglichen zukünftigen gemeinsamen Basis (z. B. MONIQUE WITTIG: LES GUERILLERES/ Marion Zimmer Bradley: THE RUINS OF ISIS) 5 . Erstere beschäftigen sich mit den Folgen patriarchaler Herrschaft in sehr viel drastischerer Form, sprechen sie doch dem Mann überhaupt ab, die Erde in einem lebenswürdigen Zustand erhalten zu können. Ihre Kernthese besagt, daß der Mann nicht fähig sei, soziale Beziehungen ohne Macht leben zu können; "Machthunger" wird so biologistisch zu einer anthropologischen Konstante von Männlichkeit. Neben den bereits erwähnten Funktionen übernimmt diese Literatur die Aufgabe, die gesamte reale und potentielle Gewalttätigkeit patriarchaler Herrschaft zu dokumentieren, die sich gegen alles vermeintlich Schwächere richtet und mit dem Prinzip einer Scheinrationalität sich unterordnen will. Eine Literatur der Wut – so könnte man/frau sie nennen, auch eine Literatur der homosexuellen Frauen in der Bewegung.
"Realistischer" im Sinne einer Realisierungsmöglichkeit sind natürlich diejenigen Texte, die eine zweigeschlechtliche, dennoch geschlechtsrollenfreie Gesellschaft entwerfen, so beispielsweise Ursula K. LeGuin in THE DISPOSSESSED, Doris Lessing in THE MARRIAGES BETWEEN ZONES THREE, FOUR, AND FIVE und Marge Piercy in WOMAN ON THE EDGE OF TIME 6 . Insbesondere Piercys Roman zählt zu den Texten, die getrost in die Reihe der sozialen Utopie – ohne jegliche Abstriche – aufgenommen werden können. Ihr Mattapoisett 7 ist in jeder Beziehung eine wohldurchdachte Alternative zur herrschenden Realität. Die in der Realpolitik meist getrennt eingeklagten basisdemokratischen Strukturen, feministischen und ökologischen Forderungen verband Piercy zu einem einheitlichen, aber keineswegs statischen Bild eines Gemeinwesens Freier und Gleicher. LeGuins Roman läßt sich von der Qualität her vergleichen. An THE DISPOSSESSED wird eine generelle Tendenz der feministischen Utopie deutlich: der größte Teil der phantasierten Gemeinwesen erhielt anarchistische Strukturen, mit allen darin enthaltenen positiven und negativen Potentialen, so z. B. dem Konflikt zwischen basisdemokratischen Entscheidungswegen und der Gefahr der Ausbildung informeller Machteliten. Die Schriftstellerinnen greifen auf das althergebrachte Rätemodell zurück (selbst Matriarchate weisen diese Komponente auf), institutionalisieren aber in den zweigeschlechtlichen Entwürfen die gleiche Verteilung von Männern und Frauen in den Entscheidungsgremien.
Selbstverständlich ist es an dieser Stelle nicht möglich, detailliert an jedem einzelnen Roman nachzuzeichnen, wo sein utopisches Gedankenpotential liegt. Wesentlich erscheint jedoch, daß ihr Entstehungszusammenhang auf die Diskussionen und Kämpfe einer sehr lebendigen sozialen Bewegung verweist, sie demnach nicht als abstrakte GedankenSPIELE interpretiert werden dürfen, sondern vielmehr den Charakter einer politischen Orientierung – freilich in literarischer Form – besitzen. OHNE diesen könnten sie nicht als utopische Texte bezeichnet werden.
Schon allein die Zeit (Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre), in der die Geschlechterfrage in der SF erstmals thematisiert wurde, bestätigt diese Hypothese, fällt sie doch in allen westlichen Staaten mit der Entstehung der Neuen Frauenbewegung zusammen. Ihr größtes Leserinnenpotential, einmal Texte wie die LeGuins ausgenommen, erreichen die Autorinnen gerade hier.
Die Frage nach einer möglichen revolutionären Veränderung der schlechten Realität stellen alle feministischen Utopien, wenn die Antworten auch sehr unterschiedlich ausfallen. Die Frauenbewegung zeichnet bis heute ein eher ambivalentes Verhältnis zur Frage gesellschaftlicher Macht(beteiligung) aus. (Dies gilt für die Vereinigten Staaten nicht in gleicher Schärfe.) Daß sich die feministischen utopischen Romane vor einer Beantwortung dieser Frage nicht scheuen, darin liegt vor allem ihre außerordentliche politische Qualität. Sie klagen gesellschaftliche Macht ein und brechen damit ein langjähriges Tabu der Bewegung, die erst allmählich zu der Erkenntnis gelangt, daß eine grundsätzliche Verweigerung nicht eine langfristige Strategie sein kann und auch nicht sein darf. Möglicherweise liegt die Gefahr nämlich weniger darin, sich die Hände im politischen Tagesgeschäft zu beschmutzen, als sich der herrschenden Politik durch kollektive Verweigerung zu entziehen. Letzteres könnte in Zeiten von Reformeuphorie eine sinnvolle Politik sein, in Zeiten gesellschaftlichen roll backs richtet sie unter Umständen große Schäden an, überläßt sie doch den Falschen das Feld der Politik allein. Die andere Seite der "Utopischen Medaille", die Dystopie, z. B. Zoe Fairbairns BENEFITS 8 warnt vor einem solchen Verhalten. Fairbairns untersucht in ihrer Schreckensvision die verschiedenen Formen, in denen sich eine Geburtenkontrollpolitik gegen die Frauen wendet. Kurz zusammengefaßt: Viele Texte der Frauen-SF haben ihre primäre Funktion in reiner Unterhaltung. Einigen Autorinnen gelang es jedoch, in einem Roman schlüssig das Bild einer post-patriarchalen Gesellschaft zu entwerfen, sei es auf symbolischer Ebene (THE LEFT HAND OF DARKNESS) oder auf einer konkret politischen (WOMAN ON THE EDGE OF TIME). Bestimmte Elemente charakterisieren diese Romane – und nur sie können als Utopie im Unterschied zur Frauen SF bezeichnet werden -: meist in Kontrast zu einem feindlich gesonnenen patriarchalen Nachbarstaat vermitteln sie das Bild einer Gesellschaft/eines Gemeinwesens, in dem die soziale Rolle Männlichkeit keine gesellschaftliche Funktion und keinerlei Herrschaftsmöglichkeiten mehr hat. Einklang mit der Natur und freiheitliche menschliche Beziehungen kennzeichnen das oft hedonistische soziale "Klima". Die politische Struktur entstammt anarchistischen Vorbildern. Alle Texte entwerfen historisch zum ersten Mal eine Gesellschaft, in der der Mann nicht mehr über Frau und Natur herrschen kann. Daß sie darüber hinaus thematische Anregungen aus der Frauenbewegung und -forschung bezogen haben und gleichzeitig wiederum in diese hineintragen, macht ihre spezifische utopische Qualität und politische Bedeutung aus. Daß wenige in einem Geschlechter-versöhnenden Tenor geschrieben wurden, stößt oft, wie auch in dieser Arbeitsgruppe, auf offene Ablehnung. Die politische NOTWENDIGKEIT ihrer Unversöhnlichkeit liegt in der für die Frauen kaum zu bewältigenden Aufgabe, die „Errungenschaften" 3000jähriger patriarchaler Herrschaft zu überwinden, wollen wir nicht ALLE im ökologischen oder atomaren Holocaust umkommen.
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ANMERKUNGEN 1) Christa Wolf, Selbstversuch. Traktat zu einem Protokoll in: Sarah Kirsch/Irmtraud Morgner/Christa Wolf, Geschlechtertausch. Drei Geschichten über die Umwandlung der Verhältnisse, Darmstadt/Neuwied : Luchterhand 1980, S. 65 ff.
2) Zum Beispiel: Anne K. Mellor, On Feminist Utopias in: Women's Studies 3/1982, s. 241 ff.
3) THE LEFT HAND OF DARKNESS deutsch: Ursula K. LeGuin, Winterplanet München: Heyne 1980 (3. Aufl.)
4) MOTHERLINES; deutsch: Suzy McKee Charnas, Alldera und. die Amazonen, München: Droemer Knaur 1984 – THE WANDERGRÖUND. STORIES OF THE HILL WOMEN; deutsch: Sally Miller Gearhart, Das Wanderland. Geschichten von den HügelFrauen, München: Frauenoffensive 1982 – THE DEMETER FLOWER; deutsch: Rochelle Singer, Die Demeter Blume, Frankfurt/Main : Medea 1983
5) LES GUERILLERES; deutsch: Monique Wittig, Die Verschwörung der Balkis, München: Frauenoffensive 1980 – THE RUINS OF ISIS; deutsch: Marion Zimmer Bradley, Die Matriarchen von Isis Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe 1979
6) THE DISPOSSESSED; deutsch: Ursula K. LeGuin, Planet der Habenichtse, München: Heyne 1981 (4. Aufl.) – THE MARRIAGES BETWEEN .ZONES THREE, FOUR, AND FIVE; deutsch: Doris Lessing, Die Ehen zwischen den Zonen Drei, Vier und Fünf, Frankfurt/ Main: Fischer 1984 – Marge Piercy, WOMAN ON THE EDGE OF TIME, London: Women’s Press 1983 (4.Aufl.) Â
7) So heißt Piercys Utopia.
8) BENEFITS; deutsch: Zoe Fairbairns, der Frauenturm. Eine Apokalypse, Berlin: Rotbuch 1981
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