Stanislaw Lem und die Frauen
(Ursprünglich veröffentlicht in SFT 11/84)
Versuch der Erklärung einer Abwesenheit Â
Der Puritanismus der USA und die Prüderie Englands haben lange Zeit verhindert, dass die Science Fiction eine Entwicklung nachvollziehen konnte, die für den Bereich der Hoch-Literatur, spätestens seit Henry Miller und D. H. Lawrence, schon längst abgeschlossen war. Die Science Fiction war in Bezug auf Sexualität lange Zeit hindurch absolut keimfrei. Soweit es überhaupt Frauen gab, waren diese Staffage ganz im Sinne von Dale Arden und Wilma, die beiden ewigen Verlobten der beiden asexuellen Superhelden Flash Gordon und Buck Rogers. Die Science Fiction war eine Welt der Männer -sowohl in den Büchem selbst als auch der Kreis ihrer Produzenten. Der Frau einen Platz einzuräumen hätte bedeutet, den Helden mit anderen Gefühlen als Mut, Vaterlandsliebe und Aufopferungsbereitschaft auszustatten und der Frau Bedeutung zuzumessen
Die Abwesenheit Die Abwesenheit der Frau als handlungsrelevantes Element bedeutet gleichzeitig die Abwesenheit der Sexualität. Zwar gab es den einen oder anderen Versuch in der Science Fiction, Sexualität als Thema und Frauen als Teil der Handlung einzuführen (Asimov: "What's this Thing called Love", 1961; besonders aber Philip Jose Farmer: THE LOVERS, 1961, sowie eine Reihe von Kurzgeschichten desselben Autors), doch als Durchbruch muss wohl Naomi Mitchisons Roman MEMOIRS OF A SPACE WOMAN (1962) angesehen werden. Nicht nur, dass eine Frau alleinige Trägerin der Handlung ist, auch die Sexualität, besonders zwischen Erdenfrau und Aliens, wird für damalige Verhältnisse recht freizügig dargestellt. Lem äußert sich allerdings über diesen Roman mit recht harten Worten: "MEMOlRS OF A SPACE WOMAN war für mich ekelerregend" 1 und gipfelt in der Klassifizierung des Romans als "eine Beleidigung des guten Geschmacks, der biologischen Wissenschaften, schließlich der Vernunft."2Â
Damit ist auch gleich gesagt, was Lem über Sexualität denkt, d. h. die Darstellung der Sexualität im literarischen Werk. Das ist ein Bereich, den Lem wie keinen anderen ausklammert, und wenn er doch einmal thematisiert wird, dann eben mit dem im Zitat erkennbaren Ekel. Dieser Ekel spricht auch aus einigen Passagen des Romans GAST IM WELTRAUM (1955), der bis jetzt auf Deutsch nur in der DDR veröffentlicht wurde und den der Autor auch nicht gewillt ist, für eine BRD-Ausgabe freizugeben. Er handelt von dem Flug des Raumschiffs Gea ins Alpha CentauriSystem, wo die Besatzung auf eine Jahrhunderte alte Raumstation der Amerikaner trifft, in der alle Besatzungsmitglieder inzwischen tot und mumifiziert sind. Hier nun einige Eindrücke, die der Protagonist beim Besuch der Station sammelt:Â
"Nein - der Astrogator (ein anderes Mitglied der Gea-Besatzung, FFM) sah nicht den Toten an, sondern die Wand. Von dort starrte uns eine nackte Frau an. Sie saß auf einer riesigen Schildkröte, hatte die Beine übereinandergeschlagen und berührte mit einer Blüte, die sie in der Hand hielt, die entblößte Brust. An den Füßen hatte sie sonderbare Sandalen mit einem Absatz, der wie ein scharfer Schnabel geformt war. Die Nägel an den Zehen und Fingern waren blutig. Ebenso rot war ihr Mund, der zu einem Lächeln geöffnet war, so dass die schneeweißen Zähne hervorschimmerten. In diesem Lächeln lag etwas unaussprechlich Gemeines."3Â
"Im Bereich der Strahlen (der Lampen, FFM) sahen wir Tote, Tote ... Über ihre flachen braunen Körper hinweg, die wie vertrocknete, riesige Motten aussahen, starrten von den Wänden nackte Frauen." 4Â
"Diese nackten Weiber mit schlanken, weißen Fingern, die in blutroten Nägeln endeten - diese Weiber, deren Blick uns aus den Augenwinkeln und unter halb geschlossenen Lidern hervor zudringlich, hartnäckig verfolgte, in Posen erstarrt, die ein Hohn, eine Lästerung all dessen waren, was wehrloses Geheimnis und Schweigen der Nacktheit ist - waren diese Weiber auch Menschen?"5Â
Die Darstellung nackter Frauenkörper wird von Lem mit einem vehementen Bannfluch belegt, wobei der Autor sogar soweit geht, bei Frauen, die sich in solcher Weise abbilden lassen, das Menschsein in Frage zu stellen. Die Empörung des Ich-Erzählers ist das Zurückschrecken des Puritaners vor einem Teil unserer Existenz, die besser im Dunkel des Schlafzimmers bzw. im Kellergeschoß einer doppelten Moral verborgen bleiben sollte. Auf der Gea gibt es Ehepaare und unverheiratet zusammenlebende Paare (z. B. der Protagonist und Anna Ryns), deren Privatleben sich durch Verhüllen problemlos organisieren lässt. Lem klammert hier einen weiten Bereich möglicher Konfliktsituationen aus, aber nicht, weil er ihm irrelevant erscheint - er schreibt im GAST IM WELTRAUM über so viele Themen, die für die Handlung ohne Bedeutung sind -, vielmehr scheint es, als könne er über diesen Teil menschlicher Existenz nur mit Abscheu sprechen. Um diese Abneigung auszudrücken, plakatiert er eine Raumstation mit Pin-Up-Fotos und teilt dem Leser völlig überflüssigerweise mit, was er davon hält. Diese Fotos nackter Frauen stehen allerdings nicht für die Kommerzialisierung des weiblichen Körpers, sondern für einen Aspekt menschlicher Ganzheit, der allen Helden Lems verlustig geht, nämlich der Kontakt zum anderen Geschlecht.
Pin-up-Fotos und die auf ihren Vertrieb spezialisierten Zeitschriften scheinen Lem auch fünfundzwanzig Jahre später noch zu verfolgen, wenn man seinen Ausführungen in LOKAL TERMIN Glauben schenken darf. "Als er (ein Reporter, FFM) es sich bequem gemacht hatte, erfuhr ich (Ijon Tichy, FFM), dass er die Redaktion von 'Penthouse' vertrat. Mir lief es kalt über den Rücken, offenbar wurde ich von den Zeugungsorganen der höchsten irdischen Säugetiere verfolgt, da ein Magazin, das sich auf die Reklame für diese Körperteile spezialisiert hatte, mich nicht schlafen ließ."6Â
Nach einigem Hin und Her ist Tichy dann schließlich bereit, dem Reporter ein Interview zu geben, das Lem dazu benutzt, gegen die Sexualität zu Felde zu ziehen.Â
"Einmal in zwei Trillionen Fällen verwechselt die Evolution die Richtung von Körperein- und Körperausgängen. Die kosmischen Sachverständigen sind sich in der Behauptung einig, dass eben diese Peinlichkeit auf der Erde vorgefallen ist. Die Prokreation liegt in dem Teil des Körpers, der für die Ausscheidungen zuständig ist. Den irdischen Arten stellte sich die Alternative, diese Gegenden liebzugewinnen oder auszusterben. Alle Organismen, die den Tod höher schätzten als den Unflat, sind in der Tat ausgestorben. Geblieben ist das, was bereit war, Gefallen an den Ausscheidungsvorgängen zu finden. Das ist unsere unverschuldete Tragödie, ein Gebrechen in -astronomischen Dimensionen." 7Â
Auffallend ist, dass diese Ausführungen, zudem noch in ein Interview eingekleidet, recht beziehungslos im Kontext der Handlung stehen und kein Verlust eintreten würde, wenn sie einfach bei der Endredaktion von Lem gestrichen worden wären.Â
Doch scheint Lem dieses Thema so am Herzen zu liegen bzw. der Wille, seine Einschätzung der menschlichen Fortpflanzung dem Leser mitzuteilen, dass er diesem Sachverhalt darüber hinaus mehrere Seiten widmet. Als Blickwinkel wählt er dabei die Sicht einer außerirdischen Rasse, der Entianer, um alles das, was mit Sexualität zu tun hat, zu verdammen. Seine demgegenüber entwickelten Modelle einer nicht menschlichen, d. h. keimfreien Fortpflanzung können an Ideenreichtum im Vergleich mit den Erzählungen von Philip Jose Farmer nicht überzeugen (vgl. MY SISTER'S BROTHER von Philip Jose Farmer).Â
In "Sexplosion", eine der Rezensionen über nicht existierende Bücher (DIE VOLLKOMMENE LEERE, 1971), sieht Lem eine Entwicklung voraus, die zu einem totalen Sexismus führen wird. Die besondere Gestalt dieses "Buch im Buch" einmal außer Acht lassend, ist es unbestritten Lem, der seine Gedanken zum Stellenwert eines gesellschaftlichen Phänomens äußert.Â
Die Pornoindustrie hat die westliche Welt mit ihren immer perfekteren Produkten von Puppen, Reiz- und Hilfsmitteln überschwemmt, und die Gesellschaft befindet sich in einem permanenten Zustand sexuellen Höchstleistungsdrucks, als eine Chemikalie, NOSEX, durch einen Unfall in die Atmosphäre gelangt und jede Lust am Beischlaf blockiert. Die Welt ist vom Aussterben bedroht, doch inzwischen ist man soweit, Kinder mittels künstlicher Befruchtung zu zeugen und außerhalb des Mutterleibs heranwachsen zu lassen. Dieser Gedanke wird in Lems bis dato letztem Roman FRIEDEN AUF ERDEN noch einmal aufgegriffen, da auch darin die menschliche Gesellschaft der Zukunft nichts Besseres zu tun gehabt hat, als ihr technisches Leistungsvermögen auf dem Gebiet der Sexpuppen und Orgasmushilfen unter Beweis zu stellen.Â
"Die raffinierten erotischen Apparate wurden vom sogenannten Orgiak aus dem Feld geschlagen, einem sehr einfachen Gerät, das wie ein Kopfhörer mit drei Muscheln aussah. Man setzte es auf, die Muscheln enthielten winzige Elektroden, und in die Hand nahm man einen Griff, der an eine Spielzeugpistole erinnerte. - Bei Betätigung des Abzugs genoss man bereits das höchste Vergnügen, weil jede Zuckung die entsprechenden Gehirnzellen reizte. ( ... ) Die Orgiaks überschwemmten den Markt, und wer sie genau passend haben wollte, ging zur Erlebnisanprobe - natürlich nicht bei einem Sexologen, sondern ins OO, das Zentrum für Orgasmus-Ortung. 8
Diese Ausführungen scheinen für Lem eine solche Bedeutung zu haben, dass er sie immer wieder in seine Bücher einflicht, auch wenn sie kaum in einem direkten Zusammenhang mit der eigentlichen Handlung stehen. Was in GAST IM WELTRAUM noch in harter Kompromisslosigkeit abgewertet wurde, ist nun in "Sexplosion" und FRIEDEN AUF ERDEN, ironisch überzogen, in gleicher Weise verurteilt.
Vielleicht ist die NOSEX-Gesellschaft Lems Zukunftstraum von zwischenmenschlichen Beziehungen, in der es das nicht mehr gibt, was er in fast allen seinen Werken nahezu zwanghaft ausklammert? Es scheint so, als könne oder wolle der Denker Lem, der jederzeit bereit ist, das eigentlich Unvorstellbare zu denken und wie in SOLARIS auch zu beschreiben, diesen Bereich nicht darstellen.
Was macht Kelvin mit Harvey, der wiederauferstandenen Geliebten in Solaris, wenn sie sich Nacht für Nacht in seine Kabine zurückziehen? Lem schildert sehr anschaulich, wie es Kelvin immer schwerer fällt, Harvey als künstliches Wesen zu betrachten, aber die zwangsläufig auftretenden sexuellen Wünsche - - unterstellen wir einmal, Kelvin sei ein normaler Mann - werden auf nicht nachvollziehbare Weise ausgeklammert.Â
Was macht Pirx, wenn er Landurlaub hat?Â
Was macht Ijon Tichy, der Held aller Planeten, der wohl meistbegehrte Junggeselle seiner Zeit, wenn er von seinen Weltraumabenteuern in seine gemütliche Wohnung auf die Erde zurückkehrt? Staubt er wirklich nur seine Meteoritensammlung ab? Gerade bei diesen beiden Zyklen fällt die durchgängige Abwesenheit von Frauengestalten auf. Auch im Institut für Temporistik hat es Tichy nur mit Frauenzimmern zu tun, die durch Enthüllung ihres Körpers seinen Schöpfungsplan durcheinanderbringen. In der Welt des Piloten Pirx wird nicht eine Frau zur Raumfahrerin ausgebildet, vielleicht weil die Gefahr zu groß ist, der Kadett könnte sich von seiner Bahn ablenken lassen und den Hafen der Ehe anstatt den nächsten Raumhafen ansteuern? Besonders in sozialistischen Staaten kommt der Frau und ihrer Stellung in der Gesellschaft eine bedeutendere Rolle zu als in der westlichen Welt, man denke nur an Valentina Tereschkowa, die 1963 als erste (russische) Frau einen Weltraumflug absolvierte, worauf amerikanische Frauen heute noch warten. Auch ist die Abstinenz von Frauenfiguren m der Science Fiction kein sozialistisches Phänomen, als Vergleich können hier die Werke der Gebrüder Strugazki sowie Johanna und Günter Brauns aus der DDR gelten, es ist ein persönliches Merkmal des Po)&n Stanislaw Lem.Â
In einem einzigen von Lems Werken gelingt es dem Leser, einen Blick hinter die geschlossenen Schlafzimmertüren zu werfen. In TRANSFER (1961) hat der Ich-Erzähler, ein Raumfahrer, zehn Jahre im Raum verbracht, während auf der Erde 127 Jahre vergangen sind und tiefgreifende Veränderungen stattgefunden haben. Dieser Raumfahrer hat, eigentlich atypisch für den Schriftsteller Lem, einige Frauenbekanntschaften. Wie nebensächlich allerdings die Frauen in der Männerwelt des Protagonisten sind, zeigt dessen Erklärung für die Nichtteilnahme von Frauen an Raumexpeditionen: "Auf solchen Schiffen kann man keine Kinder großziehen. Und sogar, wenn es möglich wäre, will es niemand. Ehe man dreißig ist, darf man nicht fliegen. Zwei abgeschlossene Studienfächer plus vier Trainingsjahre - insgesamt zwölf Jahre - muss man hinter sich haben. Kurz - Frauen pflegen mit dreißig schon Kinder zu haben. Und es gab da noch ... andere Rücksichten."9 (Auslassungen im Original, FFM)Â
Wenn Frauen mit Männern schlafen, bekommen sie Kinder - wahrscheinlich von einer auf dem Raumschiff nistenden Storchenkolonie. Man sollte doch annehmen, dass eine zukünftige Zivilisation, die in der Lage ist, Raumschiffe auf einen Dilatationsflug zu schicken, das Problem der Empfängnisverhütung zu meistern versteht. Der Sinn des Beischlafs reduziert auf die Zeugung von Nachwuchs - spricht hier aus dem erklärten Atheisten Lem vielleicht doch das katholische Erbe und nicht der studierte Mediziner?Â
Darüberhinaus verhindert noch die überaus harte und langwierige Ausbildung die Teilnahme von Frauen an einem Raumflug und das Mindestalter von dreißig Jahren. Doch der Grund ist nicht etwa eine geistige oder körperliche Unterlegenheit der Frau gegenüber dem Mann - soweit geht Lem nicht -, es ist vielmehr so, dass Frauen mit dreißig schon Kinder haben und damit in einer Zukunftswelt Lemscher Provenienz an Heim und Herd gefesselt sind. Über die anderen Rücksichten, die noch im Spiel waren, schweigt sich der Autor allerdings aus. Könnten es etwa die Schwierigkeiten sein, die aus einem engen Nebeneinander von Frauen und Männern entstehen, wenn Sexualität mit ins Spiel kommt? Im GAST IM WELTRAUM waren die Raumfahrer noch mit Frauen zusammen an Bord und ihre geistige Abgeklärtheit schloß Konflikte um den Sexualpartner von vornherein aus. In TRANSFER verzichtet Lem lieber gänzlich auf die Anwesenheit von weiblichen Reizen, damit eine solche Gefahr gar nicht entstehen kann.Â
Einmal davon ausgehend, dass die anderen Rücksichten eben jene waren, so löst man das Problem nicht, indem den Männern die Frauen entzogen werden, denn die Wurzel allen Übels ist nicht die Frau, sondern die auf Triebbefriedigung angelegte menschliche Natur. Es erhebt sich die Frage, was die Raumfahrer in den zehn Jahren mit ihren Trieben gemacht haben, die man - wie Lem es vielleicht inaugurieren möchte - nicht einfach abschalten kann; wie hoch die Rate der Homosexualität im Verlauf der Reise war und warum aus homosexuellen Partnerschaften nicht die gleichen Probleme wie bei heterosexuellen Paaren entstehen können?Â
Die erste Frauenbekanntschaft, die der Protagonist in TRANSFER macht, schreckt vor dem Tier "Mann" zurück, während die zweite sich bereitwillig hingibt. Doch wie der Autor diesen Geschlechtsakt beschreibt "Ich küsste sie, ihr Gesicht war schmerzhaft schön, schrecklich fremd, dann gab es nur die Lust, nicht auszuhalten, aber selbst dann blieb in mir ein kalter schweigender Beobachter, ich verlor mich nicht ganz."10 erinnert fatal an die von Theweleit in seiner Untersuchung MÄNNERPHANTASIEN formulierten Urängste des Mannes, besonders des soldatisch erzogenen Mannes, sich in dem Unbekannten, genannt Frau, in Form einer verdrängten Kastrationsangst zu verlieren.Â
Ist es diese Drangst des Mannes, in dem weiblichen Körper aufzugehen, von ihm aufgesogen zu werden und damit seine Männlichkeit und in letzter Konsequenz sein Selbst zu verlieren, die Lem vor der Darstellung von Frauen zurückschrecken läßt? Doch selbst wenn es zu einem intimen Kontakt kommt, dann bleibt der Lemsche Held reserviert, er verliert sich nicht ganz, bleibt ein kalter schweigender Beobachter. Er ist immer in der Position des SELBST, das das ICH beobachtet und dessen Handlungen der. Kontrolle und Reflexion unterwirft, wie es George H. Mead als Interaktionsschema von ICH und SELBST in GEIST, IDENTITÄT UND GESELLSCHAFT beschreibt.Â
Der Lemsche Protagonist zeichnet sich generell durch eine besondere Distanz zu den Geschehnissen der Handlung aus, nie wird er so in die Ereignisse verstrickt, dass eine kritische Reflexion der eigenen Aktionen bzw. das Über-den-Dingen- Stehen unmöglich würde. Diese Position kann allerdings nicht mehr aufrechterhalten werden, wenn sich der Held auf die Ebene einer Gefühlsbindung begibt; doch solcherart von Beziehungen fehlen in Lems Werken vollständig. Die Protagonisten des Autors sind durchweg Einzelkämpfer, die unbeirrbar ihren Weg gehen und in einer Welt ohne Frauen nie Gefahr laufen, sich zu verlieren oder mit Problemen konfrontiert zu werden, die nicht auf der Verstandesebene zu lösen sind. Dieses durch die Frau vielleicht verkörperte irrationale Element würde auf der geistigen Ebene die Rationalität der Helden in Frage stellen, eine Infragestellung, die Lem nicht akzeptieren kann - so wie im sexuellen Bereich die Existenz des Mannes durch den negativ besetzten weiblichen Körper bedroht ist.Â
Manfred Geier kommt in seiner - allerdings sehr gewagten - Analyse von SOLARIS zu dem Ergebnis, dass sich der Ozean entschlüsselt "als eine projizierte Konstruktion, deren dominierendes semantisches Potential aus dem Gebiet der weiblichen Sexualität stammt."11 Da Lem bis auf das oben genannte Beispiel Sexualität vollkommen durch die Abwesenheit von Frauen ausklammert, wird "der Ozean in einer Sprache imaginativ konstruiert, deren zentraler Bezugspunkt ( ... ) die Sexualität der Frau ist, die hier konzentriert im primären Geschlechtsteil 'Vagina' fixiert wird." 12Â
"Der Ozean, die phantasmagorische Erweiterung der Vagina zum Meer der Meere, ist eine ewige Herausforderung, ekelerregend, grässlich, zugleich jedoch faszinierend, wundersam und phantastisch." 13Â
Was Geier hier macht, ist die Übertragung psychoanalytischer Erklärungsmodelle auf die Darstellung des Ozeans in SOLARIS. In der von ihm inaugurierten Zwangsläufigkeit und Konsequenz ist diese Übertragung überzogen, doch sind bestimmte Anhaltspunkte da, die bei vorsichtiger Interpretation nahelegen, dass Lems mangelnde Darstellung bzw. die fast durchgängige Abwesenheit dieses Lebensbereiches in seinen Werken mit dem von Geier konstatierten SOLARIS-Phänomen korreliert, was eine zusätzliche Stütze in der Tatsache erhält, dass Lem als Gynäkologe ausgebildet ist.Â
Der Plasmaozean bringt eine Reihe von Gebilden hervor, deren Entstehung in deutlicher Analogie zu Geburtsvorgängen zu sehen ist und von Lem auch mit Termini der Sexualität und des Geburtsvorgangs belegt wird.Â
Die Reduzierung des weiblichen Körpers auf das Organ Vagina und die gigantomatische Darstellung als Ozean, der in seiner Bedrohlichkeit, aber auch Unergründbarkeit, als Metapher für die Urängste des Mannes vor der weiblichen Sexualität steht, zwingt zu der Vermutung, dass bei Lem hier eine Hemmschwelle ist, die der Autor nicht überschreiten kann und der Ekel vor dem Weib und dem, was es biologisch als solches definiert, zum dominierenden Gefühl wird.Â
Der Ausweg aus diesen unbewussten und unterbewussten Ängsten ist die Nichtthematisierung der Frau in eben diesen Bereichen. Der wiederum einfachste Weg, diese Auslassung durchzuführen, ist, eine strikte Männerwelt zu schaffen, in der den Helden diese Gefahr gar nicht erst entsteht, weil der dazu notwendige Gegenpart nicht existiert.Â
Die Abwesenheit von Frauen in Lems Werk, die fast bis zur Negation ihres Daseins geht, legt die Vermutung nahe, dass Lems phantastische Welt eine Männerwelt ist, in der Frauen sich nicht etwa nur mit untergeordneten Diensten bescheiden müssen, sondern völlig überflüssig sind. Es wäre allerdings falsch, Lem als Frauenfeind zu betrachten oder ihm mangelnde Einsicht in die Rolle der Frau als gleichberechtigter Partner in unserer heutigen Welt zu unterstellen; der Grund für diese zwanghafte Abstinenz von weiblichen Charakteren in seinen Texten liegt m. E. in einer Unterdrückung der sexuellen Aspekte der menschlichen Existenz. Die Bedrohung durch die Frau als sexuelles Wesen findet Ausdruck in der Metapher Ozean und der Belegstelle aus TRANSFER. Sie ist eine Bedrohung, der Lem nur durch Verschweigen begegnen kann. So freimütig er sich eines jeden denkbaren Themas annimmt, hier macht er einen großen Bogen oder belässt es in Kategorien der reinen Statistik, hinter denen der eigentliche Akt verschwindet, wie in "Eine Minute der Menschheit", wo er die Zahl der pro Minute kopulierenden Menschen (34,2 Millionen) und sogar die Menge des dabei ausgestoßenen Ejakulats (4500 Liter) nennt, den Orgasmus verschweigt und allgemein in klinisch reiner Form über den Geschlechtsverkehr meditiert.14Â
Dieser Aufsatz ist abgedruckt in Band 8 der Edition Futurum: STANISLAW LEM: AN DEN GRENZEN DER SCIENCE FIC170N UND DARÜBER HINAUS. Er wurde für die Science Fiction Times leicht überarbeitet, wobei besonders die letzten, nach dem Erscheinen des Edition Futurum-Bandes, publizierten Romane FRIEDEN AUF ERDEN und LOKALTERMIN mit einbezogen worden sind.Â
Anmerkungen
1 Stanislaw Lem: Phantastik und Futurologie
II. Frankfurt 1980, S. 263
2 Ebda.: S. 266
3 Stanislaw Lem: Gast im Weltraum.
Berlin/DDR 1961, S. 423
4 Ebda.: S. 424
5 Ebda.: S. 425
6 Stanislaw Lem: Lokaltermin. Frankfurt
1985, s. 139
7 Ebda.: S. 141
8 Stanislaw Lem: Frieden auf Erden.
Frankfurt 1986, S. 241
9 Stanislaw Lem: Transfer. Frankfurt
1976, S. 34
10 Ebda.: S. 110
11 Manfred Geier: Stanislaw Lems Phantastischer Ozean, in: Werner Berthel (Hg.), Über Stanislaw Lem. Frankfurt
1981, s. 137
12 Ebda.: S. 134
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