Erstveröffentlichung SFP 133/1974
1. Wall Shaking Elektronics Inc.
Je älter der Kapitalismus wird, desto dringender ist er auf Altes angewiesen. Der fortschreitende Widerspruch zwischen Produktionsmitteln und Produktionsverhältnissen läßt sich nicht länger mit wissenschaftlichen Erklärungen und dem Fetisch Technik überspielen. Alchimie als Lehrfach bietet sich an, wenn die Hochschulchemie sich der Frage nach der Verwertung ihrer Forschungsergebnisse nicht mehr erwehren kann. Parapsychologie drängt sich auf, weil Psychoanalyse und Psychosomatik zu hart auf das treffen, was sie unter dem Begriff des Realitätsprinzips zugleich heraufbeschworen haben und verleugnen sollen. Archäologie als Kunde von prähistorischer Hochtechnik wird da interessant, wo die Problematik der zeitgenössischen Produktionsverhältnisse zu heiß auf den Nägeln brennt.
In der Amalgamierung von Wissenschaft, Technik und überkommener Mystik deutet sich eine ideologische Innovation an. Was im Frühkapitalismus Sache von verlachten Außenseitern gewesen ist und allein vom subjektiven Faktor getragen schien, mag heute so brauchbar sein, daß es zur 'Ware gemacht wird. Dem Manchesterkapitalismus waren die Phantasien eines Jules Verne sicherlich angemessener als die Gedankenflüge des Nostradamus, während heute die Sachbücher Erich von Dänikens zeitgemäßer erscheinen als etwa der Roman RALPH 124C 41+ von Hugo Gernsback. Zunehmend wird unverhohlene Irrationalität zum ideologischen Schutzschild eines Systems. das jegliche Zukunftsträchtigkeit verloren hat. Im Gegensatz zum frühen Kapitalismus, der noch mit einiger Aufrichtigkeit wissenschaftlich-technische Neuerungen verheißen konnte, bleibt dem Spätkapitalismus, wollte er ehrlich sein, nur noch die selbstmörderische Prophetie der gesamtgesellschaftlichen Produktionsplanung, Stattdessen greift er seine Heilsversprechungen aus der Vergangenheit. macht er Gedanken und Prinzipien massenwirksam, denen einst der Spott der bürgerlichen Revolution galt.
Bevor ideologische Gehalte von den Massenmedien des Spätkapitalismus ausgestreut werden können, müssen sie von Subjekten artikuliert worden sein. Nicht zufällige Wiederentdeckung alter Denker durch bibliophile Sektierer erklärt, daß längst verschollen Geglaubtes wieder aktuell wird. Vielmehr müssen zeitgemäße Widersprüche. die sich im Denken und Empfinden von Individuen und Schichten spiegeln, nach unzeitgemäßen Lehrmeistern verlangen, um ihre subjektive Lösung in der Scheinrevolte zu finden.
Die Lesefrüchte des Undergrounds sind oft weithergeholt, während die grundlegende Problematik kleinbürgerlicher freaks naheliegende Erklärungen findet. Was Denker wie Swedenborg, Hahnemann, Fort, Korzybski, Reich, Hesse und Heinlein, die vom Underground nicht selten in einem Atemzug genannt werden, gemeinsam haben, ist ihr Habitus des Fremden in einer fremden Welt. Frühkapitalistische Geheimwissenschaft und spätkapitalistisches Sektierertum scheinen sich zusammenzutun, um mit magischen Techniken dem Problem der Technik im Spätkapitalismus den Garaus zu machen. Keine neue Innerlichkeit kommt ohne bestimmte Praktiken aus, wenn sie eine Verschwörung gegen rationale gesellschaftliche Praxis sein will.
Natürlich steht der Underground. wenngleich es ihm wahrscheinlich nicht bewußt ist, auch in bestem Benehmen mit den Spitzen bürgerlicher Gesellschaftswissenschaft. Der zusehends verblödende Zeitgeist weht nicht nur in die Schlupfwinkel kleinbürgerlicher Zirkel, sondern auch um die Lehrstühle seriöser Ideologen. Was noch vor 10 Jahren Autoren wie Pauwels & Bergier vorbehalten war, scheint immer mehr Aufgabe der Alma Mater zu werden. Seit Ernst Fromm Psychoanalyse mit Zen-Buddhismus verknüpft hat (1), kann man getrost darauf warten, daß ein Ossip K. Flechtheim die Kopplung von Futurologie und Astrologie schafft. Und ein Erich von Däniken genügte, um in Fachkreisen den Ruf nach einer Universitätsdisziplin ,Kosmische Archäologie‘ aufkommen zu lassen.
Die zumindest periphere Verflechtung von Underground und Studentenrevolte läßt es angezeigt erscheinen, auch kritische Wissenschaftler wie Marcuse oder Habermas schärfer zu begutachten. Marcuse sah sich durch Faschismus und Stalinismus, die „im Marxschen dialektischen Fahrplan nicht einkalkuliert“ waren (Arnold Künzli (2)), gezwungen, den Primat des dialektischen Materialismus zugunsten eines Triumvirats aus Marx, Freud und Nietzsche abzustreiten, was dann nur zu rasch eine Neubesetzung mit Trotzkij, dem Kosmos-Psychologen C. G. Jung und dem Vulgärdarwinisten Robert Ardrey nach sich ziehen kann. Habermas gefällt sich darin, Wissenschaft und Technik zur „ersten Produktivkraft“ zu deklarieren, „womit die Anwendungsbedingungen für Marxens Arbeitswerttheorie entfallen.“ (3) Es ist nur konsequent, wenn Habermas an diese verklausulierte Leugnung der geschichtlichen Rolle des Proletariats eine Überbewertung kleinbürgerlicher Initiativen anschließt, worin er sich übrigens mit Marcuse einig ist.
Im Grunde unterscheiden sich Marcuses und Habermas’ Darlegungen nur durch eine schwer faßbare Substanz, die sich wissenschaftliches Niveau nennt. von gleichsinnigen, aber ungleich plumperen Publikationen der bürgerlichen Soziologie. Der renommierte Autor Walter Rüegg z. ß. bescheinigt dem Marxismus gönnerhaft begrenzte Gültigkeit für das 19. Jahrhundert, bestreitet ihm aber für unsere Tage fast jegliche Aussagekraft. Klassen gebe es nicht mehr, geschweige denn Klassenkampf; vielmehr sei die Gesellschaft, wie man in den USA statistisch bewiesen habe, in 6 Schichten zerfallen, deren gemeinsames Leiden jene Entfremdung sei, die als einzige von Marx’ Entdeckungen auch heute noch bestätigt werden könne. Die Sachzwänge der fortschreitenden Industrialisierung und Bürokratisierung sollen lt. Rüegg nicht nur alle Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch die großen Machtblöcke in gleicher Weise quälen. Unausweichliche Folge davon müßte sowohl innerstaatlich wie auch auf internationaler Ebene ein Zusammengehen der Schichten und Großmächte sein, damit man des weltweiten Problems der Entfremdung Herr werde (4).
Nahezu alle der hier kurz gestreiften Statements kritischer oder unverhohlen bürgerlicher Soziologie gehören für den Underground zu den Selbstverständlichkeiten, die erst den Ausgangspunkt seiner Regression markieren. Tuli Kupferberg z.B„ Mitglied der Rock-Gruppe THE FUGS, gibt in seinem Aufsatz WENN DIE MUSIK SICH ÄNDERT, ZITTERN DIE MAUERN DER STADT (5) mit leichter Hand und atemberaubender Ignoranz einen Abriß dessen, was bürgerliche Ideologen vermutlich viel Zeit und viel Kopfzerbrechen gekostet hat. Kupferbergs Meinung nach haben „die marxistischen und anarchistischen Konzepte“ schlicht „versagt“. Gewiß, „die anarchistischen Ideen“ sind ,,immer noch von Bedeutung - für Gegenwart und Zukunft“.
Aber:
,,Der Marxismus war zu mechanistisch. Er war von der Maschine hypnotisiert. Er wurde in der Ära der Dampfkraft und der Kohle geformt. Er war vorpsychologisch, voranthropologisch, vor-elektrisch und vor-psychodelisch. Er war eine gute Gesellschaftstheorie - für das l9. Jahrhundert. Marx verschob die Lösung der wesentlichen menschlichen Probleme bis „nach der Revolution“. Aber es IST jetzt nach der Revolution. Die Revolution (oder Revolutionen), die bereits stattgefunden haben. sind folgende:
1. die sexuelle Revolution: grundlegend. denn sie befreite die unterdrückten persönlichen Energien ganzer Generationen, ganzer Nationen.
2. die elektronische Revolution: in 20 Jahren machte sie alle alten Wirtschaftstheorien unbrauchbar,
3. die künstlerische Revolution: sie trug so wirkungsvoll Kunst in das alltägliche Leben, daß beides jetzt untrennbar ist,
4. die psychodelische Revolution: sie baute auf der sexuellen und wissenschaftlichen Revolution auf und schuf so neue Welten.“
Solche Imbezillität genießt, das darf nicht vergessen werden, eine seriöse Vormundschaft. Daß „die elektronische Revolution“ in kurzer Zeit „alle alten Wirtschaftstheorien“ unbrauchbar gemacht habe, stellt nur eine pointierte Kurzfassung des weithin akzeptierten Gedankens dar, die industriellen Revolutionen des Kapitalismus hätten die materielle Ausbeutung beseitigt und stattdessen allenthalben Entfremdung gesät. Statt aber über Entpersönlichung und Vermassung unter der Last unvermeidlicher Sachzwänge zu klagen, wie es bürgerliche Kulturkritiker vom Schlage eines Arnold Gehlen tun (6), glaubt Kupferberg in charakteristischer Underground-Manier den Ausweg ins menschlichere Leben bereits eröffnee die „sexuelle Revolution“ habe „die unterdrückten persönlichen Energien ganzer Generationen, ganzer Nationen“ freigesetzt, während die „künstlerische Revolution“ „Kunst in das alltägliche Leben“ trug. Durch die „psychodelische Revolution“ seien dann zu allem Überfluß noch „neue Welten“ geschaffen worden.
Im Grunde beschreibt Kupferberg einen Zweischritt, der mit der elektronischen Revolution beginnt und gleichzeitig schon befreite Sexualität, Kunst für den Alltag und die neuen Welten der Psychodelik verlangt. Dieses Dreigestirn der Entpolitisierung, der Verzauberung einer regressiven Privatwelt formiert sich wie zwangsläufig im Gefolge der scheinbar triumphierenden Feststellung, daß der Marxismus durch technische Neuerungen widerlegt sei. Das entfremdete Bild einer zunehmenden Produktionsvergesellschaftung, die gleichwohl nicht der Kontrolle der Gesamtgesellschaft unterliegt, gewinnt im Fetisch der Elektronik seine Konturen. Lt. Kupferberg entzieht sich die Elektronik, indem sie „alle alten Wirtschaftstheorien unbrauchbar“ gemacht hat, jeglichem Verständnis und jeglicher Einflußnahme, während das Individuum – gleichsam als Genugtuung – die Befreiung sexueller Energien, Kunst für den Alltag und die neuen Welten der psychodelischen Drogen zum Geschenk erhält. Der Verzicht auf gesellschaftliche Analyse und Praxis wird aufgewogen mit dem revolutionären Schein eines neuen Konsumverhaltens. Kupferbergs Scheinrevolte verlangt nach neuen Welten, nachdem die Durchschaubarkeit der Gesellschaft von der Elektronik aufgesogen worden ist. Der entpolitisierte Kleinbürger erhofft sich sein Utopia von der Warenästhetik. Großer guru solcher regressiven Irrwege ist zweifelsohne Marshall McLuhon, der – einst kritischer Analytiker der Massenmedien (7) – mehr und mehr zum Priester der Elektronik geworden ist und seinen Gläubigen verspricht, daß gerade die Unergründlichkeit der Elektronik die Menschheit aus jahrtausendelanger Entfremdung befreien und im globalen Dorf vereinigen werde (8). Der Psychoanalytiker Gershon Legman umreißt McLuhans Standpunkt folgendermaßen:
„Niemand (am allerwenigsten Prof. McLuhan)“ kann nach Meinung von McLuhan selbst die Medien „begreifen, und es bleibe einem gar nichts anderes übrig, als sie auf Treu und Glauben hinzunehmen, weil sie existieren und elektrisch sind und weil darüber hinaus ein Haufen Geld in ihnen investiert ist.“ – McLuhan meint, „all die kulturellen Greuel, die er früher einmal gebrandmarkt hat, summierten sich jetzt irgendwie zu einer glorreich rosigen Zukunft der ,besten aller möglichen Welten'. Als Evangelium akzeptiert er implizit nicht nur das unmenschlichste und entmenschteste Gesabber und Gesudel unseres Jahrhunderts sowie alle Arten von Reklame und Massenverdummungsmethoden (die sich natürlich am unheimlichsten in Kriegszeiten bewähren). sondern auch jede neue und jede noch ungeborene Form des Pop-Plunders, der Pop-Kunst. der Pseudo-Kunst bis hinunter zu den niedrigsten Varianten des elektromechanischen Kitsches und Quatsches, Zeug, von dem selbst Leute, die den amüsanten Kitsch lieben, zugeben, es sei hundserbärmlich: Wir aber werden aufgefordert. die Phänomene als die neue und im Entstehen begriffene Menschenkultur gläubig hinzunehmen.“ (9)
Lcgman vergißt bei seiner furiosen Verdammung des „Pop-Plunders“, daß gerade dieses „Zeug" die infantile Gegenwehr gegen die entfremdete Elektronik darstellt. Die Unterwerfung unter eine vermeintlich undurchschaubare Technik erhält durch kleinbürgerliche Praxis eine mildere Note. Was in seiner gesellschaftlichen Bedeutung nicht mehr erfaßt werden kann, wird zu privater Ergötzung benutzt. W. F. Haug sieht im Konsum der Technik den „Genuß der Identifikation mit der übermacht“. (10)
Wenn also der wachsende Widerspruch zwischen Produktionsmitteln und Produktionsverhältnissen, zwischen Anwendungsmöglichkeiten und tatsächlicher Anwendung der Technik im Spätkapitalismus zunehmend die Eigenmächtigkeit der Maschinen, insbesondere der symbolisch an die Spitze gestellten Massenmedien suggeriert, scheint der Kleinbürger immer mehr auf materialistische Analyse zu verzichten, den Gedanken der kollektiven Inbesitznahme der Produktionsmittel immer weiter von sich zu weisen und stattdessen mit oppositionellem, womöglich antikapitalistischem Gestus die Forderung nach gesteigertem „Genuß der Identifikation mit der Übermacht“ (Haug) zu stellen: Eine Forderung, die im Augenblick ihres Entstehens revolutionär scheinen mag, aber zugleich schon spätkapitalistische Ideologie vorwegnimmt.
Wenn Kleinbürger sich der analytischen Einsichtnahme entschlagen, äußert sich das nicht in Sprachlosigkeit, sondern in Mystik: Das Geheimnis der Elektronik soll nicht im Ökonomischen, sondern in der Physik der Elementarteilchen verborgen liegen. Obwohl die Doppelnatur des Elektrons, das sowohl Korpuskel als auch als Welle betrachtet werden kann, ein treffliches Beispiel für die Dialektik der Natur darstellt, geraten bürgerliche Wissenschaftler bei elektronentheoretischen Überlegungen keineswegs zum dialektischen Materialismus. Pascual Jordan, Atomphysiker, Hitlerintimus und Preisträger der Konrad Adenauer-Stiftung, versteht, seinen populärwissenschaftlichen Büchern nach zu urteilen (11), unter Populärwissenschaft offenbar die geschickte Verquickung naturwissenschaftlicher Belehrung mit eingängiger ideologischer Schulung. Die Quantensprünge im Bereich des Subatomaren erscheinen ihm als Beweis des freien Willens (12) (13), vergleichbare, mutmaßlich akausale Phänomene in der biologischen Sphäre als hinreichend für einen mathematischen Gottesbeweis (14). Die Hypothese der Antimaterie nimmt Jordan zum Anlaß, parapsychologische Phänomene mit der Existenz tatsächlich existierender Über- und Nebenwelten zu erklären (15). Daß Jordan, ob er nun mit dem Atomkern, der Doppelhelix der DNS oder anderen Dimensionen befaßt ist, stets auf dem Sprung zu antikommunistischer Propaganda steht, rundet das Bild ab.
Ein anderer Kernphysiker, Wolfgang Pauli, schuf mit Carl Gustav Jung die sog. Sychronizitätstheorie, die platterdings besagen soll, daß Wahnideen nicht etwa den Widersprüchen der jeweiligen Gesellschaftsordnung entspringen, sondern als Teilhabe an höheren Wirklichkeiten zu verstehen sind ( 16). Das entspricht Jordans o.a. Deutung der PSI-Erscheinungen, entspricht ferner dem Solipsismus mancher Science Fiction-Erzählungen, die sich mit psychologischen Problemen auseinandersetzen wollen.
Wie schon eingangs betont. paart sich Wisscnschaft im Spätkapitalismus mit Mystik, um im Kampf mit dem dialektischen Materialismus bestehen zu können. Sie geht natürlich auch Verbindungen zu jenem gesunden Menschenverstand ein, der der Mystik recht nahe steht. Konrad Lorenz (17), Hans Hass (18) und Jacques Monod (19) geben beredtes Zeugnis dafür, wie leichtfertig Naturwissenschaftler ihre Forschungsergebnisse zur Deutung gesellschaftlicher Phänomene heranziehen und damit ideologisieren. Eine Erklärung solchen Unfugs mag, abgesehen vom unersättlichen Ideologiebedürfnis des Kapitalismus, darin liegen, daß die Beherrschung der Natur durch den Kapitalismus in ein Stadium getreten ist, das ihn selbst als natürlich erscheinen läßt. Diese Fehlsicht vorausgesetzt, ist es nur konsequent, menschliches Denken im Kapitalismus als Folge von Quantensprüngen oder als Teilhabe an anderen Dimensionen zu deuten, gesellschaftliches Verhalten in Analogie zu Wandervogelzügen zu setzen oder aus dem genetischen Code herzuleiten. Zur Mystik geraten diese Fehlleistungen, wenn das Postulat einer gleichartigen Entwicklung von Kosmos und Welt, von Menschlichem und Atomaren erhoben wird und der Kapitalismus irdischer Ausdruck universaler Gesetzmäßigkeiten sein soll, wie es die sog. Tiefenpsychologie des C. G .Jung suggeriert. (20). In dieser Sicht hat die Elektronik mehr Verwandtschaft mit dem Elektron als mit der Dampfmaschine, ist sie wie dieses von keiner durchschaubaren Kausalität bestimmt, scheint sie nicht erfunden und gebaut, sondern ein fixes Spiegelbild des Subatomaren zu sein, ist sie keine Produktivkraft, sondern eine Naturkonstante des natürlichen Kapitalismus.
Wie die Puppe in der Puppe unterscheidet sich das Individuum nach Jung nur in den Dimensionen von seiner Gesellschaft. Wenn die Gleichung zwischen innen und außen gilt, muß das Innenleben des einzelnen ebenso reich an Produktivkräften sein wie das System, in dem er lebt. Es mag ein Beispiel für Synchronizität im Sinne Jungs und Paulis sein, wenn gleichzeitig mit der sprunghaften Entwicklung kapitalistischer Technik im Schädel von homo sapiens plötzlich espernde Neuronenkreise entstehen. Pauwels & Bergier rufen in ihrem Werk AUFBRUCH INS DRITTE JAHRTAUSEND dazu auf, den Maschinenpark im Inneren zu entfesseln, nachdem die Außenwelt den ihren länger in Betrieb genommen hat.
Die Konditionierung des menschlichen Nervensystems im kapitalistischen Produktionsprozeß taucht hier, euphemistisch getarnt, als psychisches Pendant zu den Produktionsmitteln auf, als Überbegabung, die Spiegelbild der Oberproduktion sein soll. Pauwels & Bergiers Appell zur Weckung der verborgenen Begabungen erweist sich als attraktiv verfremdete Aufforderung, auf den kollektiven Besitz der Produktionsmittel zu verzichten und den zerebralen Gusto ganz auf die Warenästhetik, auf den bloßen Schein einer Teilhabe an gesellschaftlicher Macht einzustellen.
Es bedurfte dieses langwierigen Exkurses durch die Beiträge der bürgerlichen Wissenschaft und ihrer Grenzgebiete zur Ideologie des Spätkapitalismus, um die Voraussetzungen zur psychodelischen Ideologie wenigstens teilweise ins Licht zu rücken.
2. Freizeitbeschäftigung für Arbeitslose
„Wenn alle schwere Arbeit und geistige Sklaverei von Maschinen übernommen wird, was machen wir dann mit uns – noch größere Maschinen bauen?“ – Natürlich nicht. Timothy Leary (21) – einflußreicher guru des Undergrounds – beantwortet seine rhetorische Frage selbst: „Die einzige und einleuchtende Antwort auf dieses seltsame Dilemma ist, daß der Mensch die Unendlichkeit des inneren Raums erforschen muß.“ Darin bestehe die „natürliche Lösung des Freizeitproblems“.
Wir müssen Leary dankbar sein für diese Antwort. Es gibt so manchen Science Fiction-Roman, der eine Welt ohne Arbeit mit ihren dekadenten, genußüchtigen, gewalttätigen Menschen schildert. Robert Silverberg z. B. (22) beschreibt eine Gesellschaftsordnung, in der es eigentlich zum besten stehen müßte: „Die Hohe Regierung hatte fast alle Ursachen der früheren Verbrechen abgeschafft – Hunger, Not, unbefriedigte Triebe.“ Zwar: „Die Motive für ein Verbrechen waren ausgeschaltet.“ Aber „das Verbrechen selbst blieb.“ Die Hohe Regierung hätte psychodelische Drogen ausgeben müssen. um den Bürgern die Erforschung des inneren Weltraums zu ermöglichen, und es wäre zu keinerlei Gewalttaten mehr gekommen.
Silverbergs Roman ist insofern ehrlicher als Learys Blick in die Zukunft, als er die kapitalistische Gesellschaft offensichtlich mit über die Phantasiegrenze schleppt. Wenn das Fortbestehen des Verbrechens in einer Überflußgesellschaft beklagt wird, verweist das auf die Unfähigkeit des bürgerlichen Reformismus, auch nur Nebenwidersprüche zu lösen, und zielt ideologisch ab auf die Anschuldigung des ewigen Adam, der selbst im Schlaraffenland noch mordlustig bleibt.
Andererseits ist die Unterstellung einer Welt. in der „Hunger, Not, unbefriedigte Triebe" „abgeschafft" und die „Motive für ein Verbrechen .... ausgeschaltet“ sind, erstaunlich genug, wenn man einmal die Implikation eines bestenfalls behavioristischen Menschenbilds unbeachtet läßt. Auch Learys Vorwegnahme einer Gesellschaft, in der „alle schwere Arbeit und geistige Sklaverei von Maschinen übernommen wird“, mutet unter den obwaltenden Umständen kühn an. Freilich stehen die beiden zitierten Autoren mit ihrer Antizipation nicht allein. Jean Fourastie, französischer Wirtschaftswissenschaftler, versucht in seinem Buch DIE 40 000 STUNDEN (23) plausibel zu machen, daß der Mensch in absehbarer Zukunft während seines ganzen Lebens nur die genannte Stundenzahl, also etwa 6 Prozent seiner Lebensspanne. arbeiten muß, während der Lebensstandard sich in etwa 20 Jahren verdoppeln werde. Extrapoliert man weiter, kommt man zu der verblüffenden Feststellung, daß in 100 Jahren der allgemeine Lebensstandard das 32fache des heutigen betragen muß. Unter solchen Voraussetzungen erblickt auch Fourastie in der sinnvollen Nutzung der Freizeit das größte Zukunftsproblem.
Bertrand de Jouvenel, seines Zeichens Futurologe, sieht ebenfalls eine Besserung der materiellen Lebensbedingungen voraus. Wie auch Fourastie, erhofft er sich vom technischen Fortschritt und der allgemeinen Produktionssteigerung mehr als von einer gar nicht in Erwägung gezogenen Enteignung des Großkapitals. Zwar könne, räumt de Jouvenel ein, die Einkommensstaffellung erhalten bleiben, jedoch werde der absolute Betrag der zukünftigen Gehälter um so viel höher liegen als heute, daß die relativen Unterschiede zwischen den Einkommen kaum noch Relevanz haben dürften (24).
Nach diesen beiden seriösen Wissenschaftlern soll noch der obskure Psycholiteratologe Leslie Fiedler (25) zitiert werden, der sich in seinem Aufsatz DIE NEUEN MUTANTEN mit erstaunlichem Einfühlungsvermögen dem Geist des Undergrounds widmet. Ausgangspunkt ist für Fiedler ebenso wie für Leary die Ablösung der „ökonomisch begrenzten, präautomatisierten Welt“ durch das Zeitalter der Elektronik.
„Die neuen Irrationalisten (...) sind bereit, die Verlängerung der Jugendzeit bis ins Grab zu befürworten und die Schule als überflüssig, einen bloßen Vorwand für Müßiggang, abzuschaffen. Für sie ist Arbeit so überholt wie Vernunft (...); aus dem Verhalten beider ergibt sich das Veralten alles dessen, was unsere Gesellschaft unter Reife versteht.“ (26)
„Die Jungen huldigen der Bindungslosigkeit und akzeptieren sie als eine der unumgänglichen Folgen des industriellen Systems, das sie von Arbeit und Pflicht erlöst hat, als Konsequenz des Wohlfahrtsstaates, der – ob er sich kapitalistisch, sozialistisch oder kommunistisch nennt – Desengagement zur letzten noch möglichen Tugend macht.“ (27)
„Den Nachpuritanern verhelfen die neuen populären Drogen zu Ausschweifungen, die ( ... ) symbolisch sind: Indem er die restriktive innere Ordnung zerstört, die den Zusammenbruch der äußeren überstanden zu haben scheint, entläßt der Drogenrausch sie aus der geistigen Gesundheit in den Wahnsinn. Der Wahnsinn ist es also, dem zu huldigen und nachzueifern die Kinder der Zukunft lernen · so wie sie lernen, die Vision zu suchen anstelle der Weisheit und die Halluzinationen anstelle der Logik. Den Weisen ersetzt der Schizophrene als ihr Ideal (...)“(28)
Diesen fünf Versionen einer Welt der Zukunft – einer fiktiven, zwei visionären und zwei futurologischen – ist eines gemeinsam: Ihre Unglaubwürdigkeit.
Weit mehr Realitätsbezug als Fiedlers oder Learys Äußerungen hat ein Roman John Brunners (29), der sich ebenfalls mit dem Problem der Freizeit und der Drogen auseinandersetzt. Freilich handelt es sich bei Brunner um die aufdiktierte Freizeit arbeitsloser Massen in den überbevölkerten, verelendenden USA des Jahres 2033. Ein neues Rauschgift grassiert unter den Ausgepowerten, das ,Glückstraum‘-Pulver. Wie die Hauptperson des Romans, ein auf das Drogen-Problem angesetzter UNO-Agent, erfahren muß, bringt die UNO selbst die Droge in Umlauf, um den sozialen Problemen zu steuern. Hier knickt Brunners Fabel um. Das Rauschgift sei nicht etwa Opium fürs darbende Volk, nicht Vermittler von Scheinwelten, sondern Transportmedium: Die psychodelischen Bilder sollen Anblick tatsächlich existierender Parallelerden sein, auf denen die Ausgebeuteten mit dem Drogengenuß realen Einzug halten. Nicht das Klassenbewußtsein verschwindet im ,Glückstraum‘-Rausch. sondern der Proletarier selbst.
Dieser Solipsismus eines schönen Scheins, der zur erlösenden Wirklichkeit wird, ist identisch mit dem unerreichbaren Extrem spätkapitalistischer Warenästhetik: Der Abglanz von Lust, Macht und Freiheit. den sie statt realer Emanzipation bietet, kann erst nach der proletarischen Revolution in Wirklichkeit umschlagen. Ebenso wie die Handgreiflichkeit der Drogenträume in Brunners Roman nur eine hilflose ideologische Finte ist, kann der Spätkapitalismus seine Ausgebeuteten niemals durch den bloßen Anschein mit seiner Wirklichkeit versöhnen.
Brunner setzt den Drogenkonsum in Zusammenhang mit einer morschen, verkommenen Gesellschaft. Zur Wurzel allen Übels wird die Oberbevölkerung erklärt; was in ökonomischer Dynamik begründet liegt, soll dem biologischen Koloß allzuvieler Geburten, soll der unreflektierten privaten Begierde zum Zeugen angelastet. werden. Immerhin macht Brunner, im Gegensatz zu Leary und Fiedler, klar, daß das Drogenproblem im gesellschaftlichen Elend flagrant wird, nicht im Zeitalter der umfassenden Automatisation und der unbegrenzten Muße. Leary und Fiedlers vorschnelle Unterstellung einer Welt, in der die Volkswirtschaft vor Sache allein der Maschinen geworden ist, macht sie verdächtig, der Problematik der Produktivkräfte ausweichen zu wollen, wie auch Brunner ihr, allerdings weniger auffällig, mit dem Schlagwort der Oberbevölkerung auswich.
Learys und Fiedlers lichter Begriff der Freizeit erweist sich als schierer Euphemismus der Arbeitslosigkeit, die den Proletariern mit zunehmender Automatisierung mehr und mehr droht. Keine Maschine kann die menschliche Arbeitskraft voll ersetzen, und auf den Kapitalismus bezogen heißt das, daß Mehrwert nur mit der Ausbeutung der Werktätigen zu erlangen ist. Dennoch ist der Kapitalismus zu immer weiter gehender Maschinisierung gezwungen; als Folge davon sinkt die Profitrate tendenziell ab, was wiederum zur verstärkten Diszipli nierung des Proletariats Anlaß gibt. (30) Probates Mittel hierzu sind Massenentlassungen, die nicht etwa, wie Leary und Fiedler weismachen wollen, von der Überflüssigkeit menschlicher Arbeitskraft künden, sondern vielmehr auf eine Senkung des Arbeitslohns für die noch Beschäftigten abzielen.
Kleinbürgerliche Denker wie Leary und Fiedler ziehen sich mit der Verkündung des Maschinenzeitalters aus der ökonomischen Affäre und widmen sich dem Problem der Freizeit, das sich in der Analyse rasch als kleinbürgerliche crux erweist:
Weil der Fetischcharakter der Waren um so mächtiger wird, je mehr man die Bedingungen ihrer Produktion verdrängt, füllen Drogenideologie und Medienkult gierig das Vakuum einer subkulturellen Muße, die sich der dialektisch-materialistischen Perspektive radikal entledigt hat. Weil der Widerspruch zwischen Produktionsmitteln und Produktionsverhältnissen, je mehr er sich zu seiner Auflösung hin zuspitzt, desto undurchschaubarer zu werden scheint, abstrahiert der Underground die Produktionsmittel von den Produktionsverhältnissen, abstrahiert er die Segnungen der Drogen und Massenmedien vom Prozeß der Warenzirkulation und genießt sie als Surrogat dessen, was kleinbürgerlicher Entfremdung unmöglich erscheint: der gesellschaftlichen Lenkung des Produktionsprozesses.
Indem der greise Fiedler seiner peinlichen Verständnisinnigkeit für die jungen Leute die Zügel schießen läßt, weist er mit einem Anschein tiefer Bedeutung auf den Bezug der Underground-Ideologie zur psychischen Erkrankungen hin: „Der Wahnsinn ist es also, dem zu huldigen und nachzueifern die Kinder der Zukunft lernen - so wie sie lernen, die Vision zu suchen anstelle der Weisheit und die Halluzinationen anstelle der Logik. Den Weisen ersetzt der Schizophrene als ihr Ideal.“
Georg Lukacz betrachtet die Wahnideen der Schizophrenie als äußerste Konsequenz gesellschaftlicher Entfremdung. Die ,Beeinflussungsapparate‘ der systembildenden Paranoia, von Tausk (31), Reich (32) und Legman (33 ) in fachidiotischer Befangcnheit, wenngleich nicht ohne jeden Wahrheitsgehalt als Projektion der eigenen Genitalien bzw. der sexuellen Energie gedeutet, muten in der Tat wie monströse Zerrbilder gesellschaftlicher Kräfte an, die das Individuum in Gestalt einer gewaltigen technischen und bürokratischen Maschinerie ausweglos in sein Verderben lenken. Adorno sieht in seinen THESEN ZUM OKKULTISMUS die Ursachen der wahnhaften Technophobie in der Deckungsungleichheit gesellschaftlicher Prozesse und individuellen Bewußtseins. Spätkapitalistische Widersprüche werden in der Schizophrenie zum Bild des übermächtigen Feindes, weil das Ich an der auf die Spitze getriebenen Dialektik zerbricht und nur noch die Eindeutigkeit eines Weltbilds der Paranoia ertragen kann. Der gesellschaftlichen Entwicklung der Produktivkräfte folgend, ist in der Schizophrenie der technoiphobe Wahn inzwischen anscheinend einer wahnhaften Technophilie gewichen, an die Stelle der krankhaften Gewißheit, von verborgenen Kameras gefilmt zu werden, tritt das pathologische Bewußtsein, ein Medienstar zu sein
Hier soll nicht erörtert werden, inwieweit psychodelische Drogen zu schizophrenieähnlichen Zustandsbildern führen können, oder ob etwa der Schizophrenie die körpereigene Bildung eines meskalinähnlichen Stoffwechselprodukts zugrunde liegt. (34) Ferner geht es nicht darum, die freaks der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu Geisteskranken abzustempeln – oder etwa psychische Leiden als reinste Quelle gesellschaftlicher Erkenntnis zu preisen, was etwa die Mitglieder des Heidelberger Sozialistischen Patientenkollektivs (SPK) tun (35). Wichtig ist vielmehr die Charakterisierung der Schizophrenie als Extrem der Ohnmacht bürgerlichen Erkennens, einer Ohnmacht, die die gesamte bürgerliche Kultur durchzieht und im Underground zur krassen Konsequenz jener modischen Undialektik gefunden hat, die alle Ökonomie Sache der Automaten sein läßt und alle menschlichen Probleme auf die Frage der Freizeitnutzung zusammenstreicht.
Nüchterne Basis solcher gedanklichen Verirrungen sind die Vorausberechnungen seriöser Futurologen. Was z.B. Fourastie und de Jouvenel in ihren wissenschaftlichen Horoskopen dartun, enthält in nuce bereits das platte Mißverständnis der allwaltenden Technik. Beide Autoren erwarten eine geradlinige Entfaltung der Produktivkräfte und parallel dazu einen Anstieg des allgemeinen Wohlstands, als seien nicht heute schon die Produktivkräfte weit genug entwickelt, um weltweiten Wohlstand zu garantieren, wenn sie nicht in den Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse lägen, Technischer Fortschritt und allgemeine Produktionssteigerung verkommen in der bürgerlich en Futurologie zu Phrasen, die eine Abhängigkeit menschlichen Wohlergehens allein von der Weiterentwicklung der Maschinen und diese Weiterentwicklung ihrerseits als Selbstverständlichkeit unterstellen.
Die Freizeit der Arbeitslosen, die unter der Automatisierung im Spätkapitalismus zu leiden haben, wird sicherlich nicht zur Erforschung des inneren Weltraums genutzt werden, sondern zur Vorbereitung der Revolution, die die Produktivkräfte aus den Ketten des Profilinteresses reißt.
3. Die Wechseljahre der Männer
Wenn auch nach Meinung Kupferbergs, Learys und Fiedlers ökonomisch fundierte Interessengegensätze in der gegenwärtigen Gesellschaft nicht mehr existieren, weil sie als Bestandteil der „prä-automatisierten Welt“ (Fiedler) zusammen mit ihr untergegangen sind, will der Underground dennoch nicht leugnen, daß auch in unserer Zeit noch Konflikte herrschen. Schließlich haben ja gerade die freaks ihre Erfahrungen mit Polizei und Gesetzgebern gemacht. Nicht etwa, weil sie den Klassenkampf vorantreiben wollten. Nichts liegt ihnen ferner, denn die „elektronische Revolution“ hat bekanntlich „alle alten Wirtschaftstheorien unbrauchbar“ gemacht (Kupferberg). Vielmehr muß man annehmen, daß es sich um Auseinandersetzungen handelt, die nach den Worten von Habermas zwar durch die Produktionsweise bedingt sind, aber nicht mehr die .Form von Klassenkonflikten annehmen können“; die sich „an gesellschaftlichen Interessen um so wahrscheinlicher entzünden, je weniger ihre Verletzung systemgefährdende Folgen hat.“ (36)
Wer also ist der Gegner, gegen den der Underground kämpft? Kurz gesagt: Es sind die „weißen, lügenhaften Männer in den Wechseljahren“. (37) Leary erklärt sich näher:
„Ich behaupte, es gibt ein Wort, das die Politik, die Wirtschaft und den sozialen Konflikt heute erklärt. Es heißt nicht ,links‘ oder ,rechts‘· es heißt ,Alter‘." (38) ,,Natürlich ist es eines der schrecklichsten Merkmale unserer Wechseljahregesellschaft, daß man bei zunehmendem Alter und zunehmender Gehirnschädigung immer mächtiger wird. Darum haben wir in den Vereinigten Staaten die paradoxe, selbstmörderische Situation, daß aller Reichtum in den Händen von Menschen in den Wechseljahren liegt , denen natürlich nur darum zu tun ist, ihn zu schützen; darum haben wir ein unglückliches, gewalttätiges Land.“(39)
Wie überall in kleinbürgerlichen Sekten, die sich von dialektisch-materialistischer Denkungsweise gänzlich lösen, muß auch im Underground ein biologistisches Schema herhalten, Freund von Feind und überreifes von Zukunftsträchtigem zu unterscheiden. Stoffwechselentgleisungen bedingen also „die Politik, die Wirtschaft und den sozialen Konflikt heute“; der Spätkapitalismus entsteht in den verkalkten Gehirnen drüsengestörter Männer, die ihren Reichtum schützen wollen. Warum man mit „zunehmendem Alter“ „immer mächtiger“ wird, kann Leary nicht begründen: Es ist eine „paradoxe, selbstmörderische Situation“.
Allerdings hat sich eine solche Situation in der Weltgeschichte bereits viermal ergeben:
„Das alte Drama wiederholt sich. Es geschah in Rom, und es geschah dem Perserreich und dem türkischen Reich, und es geschah in Athen. Die gleichen Symptome. Wir sind in etwas gefangen, das einem Ameisenhaufen mit Klimaanlage gleicht, und wir sehen, wie wir hilflos in Kriege, Oberbevölkerung und Plastikroutine treiben.“ (40)
Man wundert sich, warum solche Teufelskreise nicht noch häufiger aufgetreten sind; schließlich hat es zu allen Zeiten „Männer in den Wechseljahren“ gegeben. Vielleicht hat es etwas mit den Sternbildern zu tun? Leary, der nach eigenen Worten „Jung näher als Freud“ (41) steht, dürfte wissen, daß die Erde sich aus dem Zeichen der Fische in das des Wassermanns bewegt und also die Zeit großer Umbrüche gekommen ist, die Zeit, der gesunden Jugend ihren kranken Widersacher zu zeigen, der das „alte Drama" wieder heraufbeschwört. Diesmal aber sind die Karten besser verteilt als in Rom, bei den Persern, im türkischen Reich oder in Athen: Die neue Jugend, „die heutige Generation unter fünfundzwanzig", „die weiseste und heiligste Generation , die die menschliche Rasse je gesehen hat“ (42), hat mit den psychodelischen Drogen und ihrem überlegenen Naturell den höchsten Trumpf in der Hand. Ihr Siegeszug ist gewiß; er bedarf keiner Gewaltanwendung, lediglich der Trennung vom „rücksichtslosen Irrsinn“ (43) der Alten. „Wenn es im Verlauf der organischen Evolution offensichtlich wird, daß ein Mutationsprozeß zwangsläufig die physischen und neurologischen Bande löst, die Angehörige einer Generation mit der Vergangenheit verbinden“ (44), steht die Segregation der Mutanten zu Gebot. Fernab der „Wechseljahregesellschaft“ kann und wird sich das „Wachstum der neuen Rasse" (45) entfalten.
Leary ist konsequent; nachdem er den gesellschaftlichen Konflikt biologisch motiviert hat, löst er ihn auch biologisch. Die „weißen, lügenhaften Männer in den Wechseljahren sind zu alt, um noch lange zu herrschen, und die revolutionäre Umgestaltung der Verhältnisse ergibt sich von selbst aus ihren besseren Nachkommen. In einem Punkt freilich hat Leary recht: Ein Kapitalismus, dessen Kapitalisten „nur darum zu tun ist“, ihren Reichtum „zu schützen“, statt ihn immer wieder in einen riskanten Zirkulationsprozeß zu werfen, würde von selbst absterben, einmal ganz abgesehen davon, daß aus dem biologischen Gegensatz zwischen einem Feudaladel „in den Wechseljahren" und der „neuen Rasse“ des Bürgertums gar kein Kapitalismus hätte entstehen können.
(wird fortgesetzt)